by Annika, 10.12.2024
In einer wegweisenden Studie, veröffentlicht in Nature Neuroscience, haben Forscher der Hebrew University in Jerusalem einen faszinierenden neuen Ansatz vorgestellt, um die neurobiologischen Grundlagen des Autismus-Spektrums zu erklären. Die Studie schlägt vor, dass viele der typischen Verhaltens- und Wahrnehmungsmerkmale von Menschen mit Autismus durch ein erweitertes Dynamikfenster der neuronalen Aktivität erklärt werden können. Dieses Modell, das als "Increased Dynamic Range" (IDR) bezeichnet wird, könnte die Grundlage für ein besseres Verständnis und neue diagnostische Ansätze schaffen.
Der Dynamikbereich: Ein Schlüssel zum Verständnis
Das Konzept des Dynamikbereichs beschreibt, wie empfindlich Nervenzellen auf unterschiedliche Reize reagieren. Ein schmaler Dynamikbereich (Narrow Dynamic Range, NDR) bedeutet, dass Neuronen sehr schnell und scharf auf Veränderungen reagieren, jedoch nur innerhalb eines engen Reizspektrums. Das autistische Gehirn hingegen weist laut der Studie einen erweiterten Dynamikbereich (Increased Dynamic Range, IDR) auf, bei dem die neuronale Antwort allmählicher erfolgt und ein breiteres Spektrum abdeckt.
Diese Eigenschaft bietet Vor- und Nachteile. Einerseits ermöglicht der IDR eine außergewöhnlich feine Wahrnehmung von Details. Menschen mit Autismus können z. B. kleinste Unterschiede in visuellen Mustern, Klängen oder anderen sensorischen Reizen erkennen. Andererseits reagieren sie langsamer auf abrupte Veränderungen, da die neuronale Aktivität durch die allmähliche Anpassung Zeit benötigt, um sich auf neue Reize einzustellen.
Von der Theorie zur Praxis: Was zeigt die Forschung?
Die Wissenschaftler testeten ihr Modell anhand mehrerer Experimente und realer Daten. Dabei zeigte sich, dass der breitere Dynamikbereich (IDR) der neuronalen Aktivität sowohl spezifische Anpassungen als auch besondere Wahrnehmungseigenschaften mit sich bringen:
Finger-Tapping-Synchronisation: In einer Aufgabe, bei der die Teilnehmer ihre Fingerbewegungen mit einem Metronom synchronisieren sollten, zeigten Menschen mit Autismus eine langsamere Anpassung an plötzliche Tempoänderungen. Das Modell erklärt dieses Verhalten durch den breiteren Dynamikbereich, der eine stabilere, aber auch weniger schnelle Anpassung an abrupte Veränderungen ermöglicht.
Wahrnehmung von Bewegung: Bei der Erkennung kohärenter Bewegungen (z. B. Bewegungsrichtungen in einem Feld aus zufällig bewegenden Punkten) benötigten autistische Teilnehmer mehr Zeit oder stärkere Reize, um Bewegungen zuverlässig wahrzunehmen. Dies spiegelt eine Tendenz wider, sensorische Informationen gründlicher zu integrieren, was allerdings mit einer erhöhten Verarbeitungszeit einhergeht.
Orientierungsaufgaben: In Aufgaben zur Wahrnehmung und Reproduktion visueller Orientierungsmuster zeigten Menschen mit Autismus weniger Verzerrungen durch typische Wahrnehmungseffekte wie den "Oblique Effect". Dies deutet darauf hin, dass ihre Wahrnehmungsressourcen gleichmäßiger über das gesamte Reizspektrum verteilt sind, was eine neutralere Verarbeitung von sensorischen Reizen ermöglichen könnte.
Diese Ergebnisse verdeutlichen, dass der breitere Dynamikbereich sowohl Stärken, wie eine feine Differenzierung sensorischer Reize, als auch Einschränkungen, wie eine langsamere Anpassung an schnelle Veränderungen, mit sich bringt. Die Studie zeigt, wie unterschiedlich sensorische Informationen verarbeitet werden können und wie dies zur Vielfalt neuronaler Strategien beiträgt.
Die biologischen Grundlagen im Fokus
Die Forscher schlugen vor, dass der breitere Dynamikbereich (IDR) durch größere Unterschiede in der Reizschwelle einzelner Neuronen entsteht. Während in einem neurotypischen Gehirn viele Neuronen auf ähnliche Reizwerte (z. B. eine bestimmte Lichtintensität oder Klangfrequenz) reagieren, sind diese Schwellenwerte im autistischen Gehirn deutlich variabler. Diese Variabilität führt dazu, dass ein breiteres Spektrum von Reizen abgedeckt werden kann, was die Sensitivität für feine Unterschiede erhöht. Gleichzeitig wird die neuronale Antwort allmählicher, was dazu beitragen könnte, die Verarbeitungsdynamik insgesamt zu verlangsamen.
Die Forscher identifizierten potenzielle genetische und neurobiologische Mechanismen, die diese Unterschiede erklären könnten. Besonders Gene, die Synapsen oder inhibitorische Neurotransmitter wie GABA betreffen, scheinen eine Rolle zu spielen. Veränderungen in der GABA-ergen Hemmung könnten dazu führen, dass die neuronale Erregung weniger stark reguliert wird, was die Variabilität innerhalb neuronaler Netzwerke erhöht. Weitere potenzielle Mechanismen umfassen genetische Mutationen, die die Struktur und Funktion von Synapsen beeinflussen, wie zum Beispiel Mutationen in SHANK3, CNTNAP2 oder FMR1. Diese Gene sind dafür bekannt, Prozesse wie Synapsenbildung und -stabilität zu modulieren, die für eine präzise neuronale Signalverarbeitung entscheidend sind.
Die Studie hebt außerdem hervor, dass die erhöhte neuronale Variabilität nicht nur eine Herausforderung darstellt, sondern auch eine Grundlage für die besonderen Wahrnehmungseigenschaften von Menschen mit Autismus bietet. Ein breiter Dynamikbereich erlaubt es neuronalen Netzwerken, Reize über ein größeres Spektrum zu differenzieren, was eine genauere, wenn auch langsamere Verarbeitung ermöglichen könnte.
Fazit
Für mich persönlich ist diese Arbeit ein weiterer Schritt hin zu einem tieferen Verständnis der neuronalen Vielfalt. Sie zeigt, wie komplex und einzigartig die Wahrnehmung von Menschen im Autismus-Spektrum ist, und unterstreicht, dass Eigenschaften wie Detailgenauigkeit und Sensibilität keine "Fehler" sind, sondern alternative Möglichkeiten, die Welt zu erleben.
Die Wissenschaft hilft uns, diese Vielfalt nicht nur zu verstehen, sondern sie als Bereicherung zu schätzen. Ein breiter Dynamikbereich mag Herausforderungen mit sich bringen, aber er zeigt auch, dass das Gehirn von Menschen mit Autismus faszinierend anpassungsfähig und detailorientiert ist. Diese Perspektive zu erkennen und zu würdigen, ist ein wichtiger Schritt für eine inklusivere Gesellschaft.
Quelle:
Wertheimer, O., Hart, Y. Autism spectrum disorder variation as a computational trade-off via dynamic range of neuronal population responses. Nat Neurosci 27, 2476–2486 (2024). https://doi.org/10.1038/s41593-024-01800-6
Dr. rer. nat. Annika Mix